Antisemitische Verschwörungsmythen
von Kathleen Herr
Was hat Corona mit dem Holocaust zu tun? Die kurze Antwort lautet: Nichts. Die etwas längere: Anhänger*innen von Verschwörungstheorien halten eine künstliche Verbindung zwischen ihnen aufrecht.
Tatsache ist, wir erleben seit Beginn der Corona-Pandemie auch eine Info-Pandemie. Das heißt, dass gezielte Desinformationen um sich greifen und weite Teile der Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft mit den Verbreiter*innen von Falschinformationen konkurrieren müssen. Inzwischen sind wir auf einer neuen Stufe von Fake News angekommen: Die Urheber*innen haben ein Narrativ um diese Falschinformationen herum gesponnen und verbreiten ihre Verschwörungsmythen.
Mit dem Einsetzen der Lockerungen erreichen diese Mythen ein größeres Publikum, nämlich auch die Menschen, die entweder nur analog oder eben nicht in den sozialen Medien unterwegs sind. Auf teilweise unangemeldeten und sogenannten „Hygiene-Demos“ finden Menschen unterschiedlichster Couleur zusammen. Während die einen von ihrem Versammlungsrecht Gebrauch machen, um mit der Regierung über die politischen Maßnahmen zu diskutieren, nehmen die anderen genau dieses Recht wahr, um eine angebliche Verschwörung von allerlei Mächten zu demaskieren. Eines ihrer oft sich wiederholenden Argumente ist: Wir lebten in einer Meinungsdiktatur. Welche Diktatur erlaubt öffentliche Versammlungen, wo stundenlanges und für das Individuum folgenlose Kundtun von allerhand Meinung legal ist?
Nicht immer bleibt es bei derartigem Unwissen, immer häufiger treten antisemitische Deutungen der Corona-Pandemie zum Vorschein. Sie verhöhnen Holocaust-Opfer und relativieren die Shoah. Die RIAS (Recherche und Informationsstelle Antisemitismus) verzeichnet in mittlerweile vier Bundesländern antisemitische Vorfälle, wo Demonstrant*innen z.B. Plakate mit der Aufschrift „Gib der Neuen Weltordnung und Dr. Mengele keine Chance!“ zeigen oder Sticker im öffentlichen Raum verbreiten, die den CharitéVirologen Christian Drosten und KZ-Arzt Josef Mengele mittels einer Fotomontage mit der Aufschrift „Trust me, I’m a doctor“ gleichsetzen.
An dieser Stelle sei zunächst einmal an einige Fakten erinnert: Die Mitgliedschaften Mengeles in der NSDAP und der SS waren mit Sicherheit nicht nur seinen Karriereambitionen geschuldet, sondern seiner Weltanschauung. Untermauert wird das erstens durch die Tatsache, dass er in seiner medizinischen Ausbildung die Schwerpunkte auf Erbbiologie und Rassenhygiene legte. Zweitens hatte er im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz zwei Funktionen inne: Zum einen war er zuständig für Selektionen, entschied also in- und außerhalb des Lagers nach eigenem Belieben darüber, wer leben durfte und wer nicht. Augenzeugenberichten nach drängte er sich für diese Aufgaben regelrecht auf und legte mit dem fröhlichen Pfeifen von Liedern einen Zynismus an den Tag, den man aus heutiger Sicht nur damit erklären kann, dass er vollends vom nationalsozialistischen Rassenwahn und der Richtigkeit seines Handelns überzeugt gewesen sein muss. Seine zweite Funktion bestand darin, medizinische Experimente im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie durchzuführen. Nach heutigem Wissen und heutigen Standards sind das keine Experimente, sondern Verbrechen.
Wo in diesem Beispiel die Fakten aufhören, fängt die Erklärung der Funktionsweise von Verschwörungsmythen an. Sie kennzeichnen sich nämlich zum einen dadurch, dass sie einen real existierenden Anknüpfungspunkt suchen. Um diesen Assoziationspunkt herum wird dann eine in sich kohärente Geschichte erzählt, die die Komplexität sehr stark vereinfacht und deshalb dem Versuch, das zu widerlegen, standhält. Auf diese Weise wird Geschichte aus ihrem Zusammenhang gerissen. Es wurde nichts gegen Juden und Jüdinnen gesagt? Doch. Sie werden nämlich gar nicht erwähnt. Die Tatsache, dass Mengele über das Leben von Menschen entschieden hat, also Akteur der beispiellosen und systematischen Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden war, wird bei dem Vergleich mit Prof. Drosten vollkommen ausgeblendet. Folglich werden die Opfer verhöhnt und der Holocaust relativiert. Diese Darstellung folgt einzig und allein der Logik der Erzählung, die eine Erklärung für die politischen Maßnahmen der heutigen Zeit sucht. Nicht der Nationalsozialismus und schon gar nicht der Holocaust werden als das dargestellt, was sie sind, sondern die aktuellen politischen Maßnahmen und Akteur*innen werden dämonisiert.
Was macht diese Erzählung? In erster Linie emotionalisiert und entlastet es Menschen von Stress. In diesem konkreten Fall von der individuellen Verantwortung, sich komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge anzueignen. Das würde es ihnen ermöglichen, die Welt, in der wir gerade leben, (besser) zu verstehen und vor allen Dingen, die damit zusammenhängenden politischen Maßnahmen nachzuvollziehen. Erst auf dieser Basis könnten sie diese hinterfragen und kritisieren.
Was können wir also tun? Das Virus ist unsichtbar, es breitet sich weltweit aus und die politischen Maßnahmen haben die individuellen Handlungsspielräume für eine lange Zeit schon eingeschränkt. Kein Mensch bleibt vom Virus und seinen Folgen sowie Unsicherheiten für das eigene Leben und das soziale Miteinander ausgenommen. Wir können zunächst einmal anerkennen, dass Menschen unterschiedlich mit Existenzängsten umgehen. Dann können wir dazu beitragen, dass Informationen einen Kontext erhalten. Wir können uns auch entscheiden, ob wir mit Menschen auf ein und dieselbe Demo gehen wollen, die Verschwörungsmythen gedankenlos in Umlauf bringen und/oder sie verbreiten. In jedem Fall aber müssen wir bezweifeln, dass es Anhänger*innen von Verschwörungsmythen darum geht, für Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte auf die Straße zu gehen.